Der
Vormarsch
Wir
hatten es für das beste gehalten, unsere Armee in der Gegend von
Kreuzburg in Mittelschlesien zu versammeln. Von dort glaubten wir größere
Armfreiheit zum Operieren gegen die nördliche Flanke der russischen
Heeresgruppe in Polen, deren Stellung zur Zeit allerdings nicht festgelegt
war, zu besitzen. - "Unmöglich!"
Wir möchten, daß es unserer Armee gestattet wird, mit dem rechten
Flügel über Kielce (Mitte Polens) vorzugehen. - "Unmöglich!"
Wir möchten, daß uns starke österreichisch-ungarische
Kräfte nördlich der oberen Weichsel bis zur Sanmündung
begleiten. - "Unmöglich!"
Wenn dieses alles als unmöglich bezeichnet wird, so wird vielleicht
die ganze Operation unmöglich sein oder werden.
Wir versammeln also unsere Truppen (XI., XVII., XX., Gardereservekorps,
Landwehrkorps Woyrsch, 35. Reservedivision, Landwehrdivision Bredow und
8. Kavalleriedivision) im von der Obersten Heeresleitung befohlenen engsten
Anschluß an den linken österreichisch-ungarischen Heeresflügel
nördlich Krakau. Unser Hauptquartier kommt vorübergehend nach
Beuthen in Oberschlesien. Aus dem Aufmarschraum treten wir Ende September
an, und zwar mit der Mitte, also nicht mit dem rechten Flügel der
Armee, in Richtung über Kielce. Die österreichisch-ungarische
Heeresleitung verschiebt von Krakau aus eine schwache Armee von nur 4
Infanteriedivisionen und 1 Kavalleriedivision nordwärts über
die Weichsel. Mehr glaubt sie südlich des Flusses nicht entbehren
zu können. Sie beabsichtigt dort selbst einen entscheidenden Angriff.
Auch dieser Plan des Verbündeten ist kühn und macht seinem Urheber
alle Ehre. Es fragt sich nur, ob Aussicht besteht, daß das zu stark
geschwächte Heer trotz allem erhaltenen Ersatz die Durchführung
ermöglicht. Meine Bedenken werden durch die Hoffnung gemildert, daß
der Russe, sobald er das Auftreten unserer deutschen Truppen in Polen
bemerkt, seine Hauptkräfte auf uns werfen wird und dadurch dem Verbündeten
einen Erfolg ermöglicht.
Das Bild, das wir uns bei Beginn unserer Bewegungen über die Lage
machen können, ist unklar. Bestimmt wissen wir nur, daß die
Russen den weichenden österreichisch-ungarischen Armeen in der letzten
Zeit über den San hinaus nur zögernd gefolgt sind. Ferner sind
Anzeichen dafür vorhanden, daß nördlich der obern Weichsel
6-7 russische Kavalleriedivisionen und Grenzschutzbrigaden in unbekannter
Zahl stehen. Bei Iwangorod scheint eine russische Armee in Bildung begriffen
zu sein. Die Truppen hierfür werden augenscheinlich teils aus den
Armeen entnommen, die uns bei den früheren Operationen in Ostpreußen
gegenüberstanden, teils kommen neue Kräfte aus Russisch-Asien
heran. Auch liegt Nachricht vor, daß südwestlich Warschau an
einer großen Stellung gebaut wird. Wir marschieren also in eine
recht unsichere Lage hinein und müssen auf Überraschungen gefaßt
sein.
Wir betreten Russisch-Polen und lernen sofort die volle Bedeutung dessen
kennen, was ein französischer General in seiner Beschreibung des
von ihm miterlebten napoleonischen Feldzuges im Winter 1806 als besonderes
Element der dortigen Kriegführung bezeichnet hat, nämlich -
den Dreck! Und zwar den Dreck in jeder Form, nicht nur in der freien Natur,
sondern auch in den sogenannten menschlichen Wohnungen und an deren Bewohnern
selbst. Mit Überschreiten unserer Grenze waren wir geradezu in einer
anderen Welt. Man legte sich unwillkürlich die Frage vor: wie ist
es möglich, daß auf dem Boden Europas die Grenzsteine zwischen
Posen und Polen solch scharfe Trennungslinien zwischen Kulturstufen des
gleichen Volksstammes ziehen? In welch einem körperlichen, sittlichen
und materiellen Elend hatte die russische Staatsverwaltung diese Landesteile
gelassen, wie wenig hatte die Überfeinerung in den Kreisen der polnischen
Großen zivilisatorische Kräfte in die niedergehaltenen unteren
Schichten durchsickern lassen! Die offenkundige politische Gleichgültigkeit
dieser Massen beispielsweise durch Einwirkung der Geistlichkeit in einen
höheren Schwung zu bringen, der sich bis zu einem freiwilligen Kampfanschluß
an uns hätte steigern lassen, schien mir schon nach den ersten Eindrücken
fraglich.
Unsere Bewegungen werden durch grundlose Wege aufs äußerste
erschwert. Der Gegner bekommt Einblick in sie und trifft Gegenmaßregeln.
Er zieht aus der Front den Österreichern gegenüber ein halbes
Dutzend Armeekorps in der offenkundigen Absicht heraus, diese uns über
die Weichsel südlich Iwangorod frontal entgegenzuwerfen.
Am 6. Oktober erreichen wir über Opatow-Radom die Weichsel. Was sich
hier vom Gegner westlich des Flusses befunden hatte, war von uns zurückgetrieben
worden. Nunmehr spricht sich jedoch eine Bedrohung unseres Nordflügels
von Iwangorod - Warschau her aus. Unter diesen Umständen ist vorläufig
eine Fortsetzung unserer Operation in östlicher Richtung über
die Weichsel südlich Iwangorod hinweg unmöglich. Wir müssen
zunächst mit dem Gegner im Norden abrechnen. Alles übrige hängt
von dem Ausgange der dort zu erwartenden größeren Kämpfe
ab. Ein eigenartiges strategisches Bild entwickelt sich. Während
gegnerische Korps von Galizien aus jenseits der Weichsel Warschau zustreben,
bewegt sich auch ein Teil unserer Kräfte diesseits des Stromes in
der gleichen nördlichen Richtung. Um unseren Linksabmarsch aufzuhalten,
wirft der Feind bei und unterhalb Iwangorod große Massen über
die Weichsel. Sie werden in erbitterten Kämpfen auf ihre Übergangsstellen
zurückgeworfen; wir sind aber nicht imstande, den Gegner völlig
vom Westufer zu vertreiben. Zwei Tagemärsche südlich Warschau
trifft unser linker Flügel unter General von Mackensen auf überlegene
feindliche Truppen und wirft sie gegen die Festung. Etwa einen Tagemarsch
von der Fortslinie entfernt kommt jedoch unser Angriff ins Stocken.
Auf dem Schlachtfeld südlich Warschau ist uns als wichtigstes Beutestück
ein russischer Befehl in die Hände gefallen, der uns klaren Einblick
in die Stärken des Gegners und in seine Absichten gibt. Von der Sanmündung
bis Warschau haben wir es danach mit 4 russischen Armeen zu tun; das sind
etwa 60 Divisionen gegenüber 18 auf unserer Seite. Aus Warschau heraus
sind allein 14 feindliche Divisionen gegen 5 der unserigen angesetzt.
Das sind etwa 224 russische Bataillone gegen 60 deutsche. Die gegnerische
Überlegenheit erhöht sich noch dadurch, daß unsere Infanterie
infolge der vorausgegangenen Kämpfe in Ostpreußen und Frankreich
sowie durch die jetzigen langen und anstrengenden Märsche, bis über
300 km in 14 Tagen und auf grundlosen Wegen, auf kaum noch die Hälfte,
ja teilweise bis unter ein Viertel der ursprünglichen Gefechtsstärke
zusammengeschmolzen ist. Und diese Schwächung unserer Kampfkraft
gegenüber neu eintreffenden, vollzähligen sibirischen Korps,
Elitetruppen des Zarenreiches!
Die Absicht des Gegners ist, uns längs der Weichsel zu fesseln, während
ein entscheidender Stoß aus Warschau heraus uns dem Verderben entgegenführen
soll. Ein zweifellos großer Plan des Großfürsten Nikolaij-Nikolaijewitsch,
ja der größte, den ich von ihm kennenlernte und der meines
Erachtens auch sein größter blieb, bis er sich in den Kaukasus
begeben mußte.
War ich im Herbst 1897 auf dem Bahnhofe in Homburg vor der Höhe nach
dem Kaisermanöver von dem Großfürsten in ein Gespräch
gezogen worden, das sich besonders um die Verwendung der Artillerie drehte,
so trat ich dem russischen Oberfeldherrn jetzt in Polen zum ersten Male
in praxi unmittelbar gegenüber, denn in Ostpreußen schien er
nur vorübergehend als Zuschauer geweilt zu haben. Gelingt seine Operation,
so droht nicht nur für die 9. Armee, sondern für die ganze Ostfront,
für Schlesien, ja für die ganze Heimat eine Katastrophe. Doch
wir dürfen jetzt nicht so schwarzen Gedanken nachgehen, sondern müssen
Mittel und Wege finden, die drohende Gefahr abzuwehren. Wir entschließen
uns daher dazu, unter Festhaltung der Weichsellinie von Iwangorod südwärts
alle dort noch freizumachenden Kräfte unserem linken Flügel
zuzuführen und uns mit diesem auf den Gegner südlich von Warschau
in der Hoffnung zu werfen, ihn zu schlagen, bevor neue Massen dort erscheinen
können.
Eile tut not! Wir bitten daher Österreich-Ungarn, alles, was es an
Truppen frei hat, sofort links der Weichsel gegen Warschau zu lenken.
Das k. und k. Armeeoberkommando zeigt für die Lage durchaus richtiges
Verständnis, erhebt jedoch zugleich Bedenken, die gerade dieser Lage
wenig entsprechen. Österreich-Ungarn, zu dessen Hilfe wir herangeeilt
sind, ist bereit, uns zu unterstützen, aber nur auf dem langsamen
und daher zeitraubenden Wege einer Ablösung unserer an der Weichsellinie
zurückgelassenen Truppen. Dadurch wird freilich eine Vermischung
deutscher und österreichisch-ungarischer Verbände vermieden,
aber man bringt die ganze Operation in die Gefahr des Mißlingens,
Gegenvorstellungen unsererseits führen zu keinem Ergebnis. So fügen
wir uns denn den Wünschen unserer Verbündeten.
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