Generalfeldmarschall von Hindenburg

 

Der Rückzug

Was wir befürchten, tritt ein. Aus Warschau heraus quellen immer neue Truppenmassen, und auch weiter unterhalb überschreiten solche die Weichsel. Von unseren langgestreckten Kampflinien an der Stirnseite aufgehalten, droht die sich immer weiter nach Westen entwickelnde feindliche Überlegenheit um unsere linke Flanke herumzuschlagen. Die Lage kann und darf so nicht lange bleiben. Unsere ganze gemeinsame Operation kommt in Gefahr, nicht nur zu versumpfen, sondern zu scheitern. Ja man könnte vielleicht sagen, sie ist schon gescheitert, da im Süden der oberen Weichsel, in Galizien, der erhoffte Erfolg nicht errungen wird, obwohl der Gegner gewaltige Massen von dort gegen unsere 9. Armee heranführt, sich also unsern Verbündeten gegenüber geschwächt hat. Jedenfalls muß der schwere, von unserer Truppe zuerst unwillig aufgenommene Entschluß gefaßt werden, uns aus der drohenden Umklammerung loszumachen und auf andere Weise einen Ausweg aus der Gefahr zu suchen. Das Schlachtfeld von Warschau wird in der Nacht vom 18. auf den 19. Oktober dem Gegner überlassen. Um die Operation nicht schon jetzt aufzugeben, führen wir unsere vor Warschau unter Mackensen kämpfenden Truppen in die Stellung Rawa-Lowicz, etwa 70 km südwestlich der Festung, zurück. Wir hoffen, daß der Russe gegen diese nach Nordosten gerichtete Front anrennen wird. Dann wollen wir mit unseren inzwischen von den Österreichern vor Iwangorod abgelösten Korps von Süden her einen entscheidenden Schlag gegen den stärksten Teil der russischen Heeresgruppe im großen Weichselbogen führen. Vorbedingung für Durchführung dieses Planes ist, daß Mackensens Truppen den Anprall der russischen Heerhaufen aufhalten und daß die österreichisch-ungarische Verteidigung an der Weichsel so fest steht, daß unser beabsichtigter Stoß gegen russische Flankeneinwirkung aus östlicher Richtung sicher geschützt ist. Die Lösung dieser letzteren Aufgabe erscheint angesichts der Stärke der Weichselstellung für unsern Verbündeten einfach. Die österreichische Führung erschwerte sie sich aber durch den an sich guten Willen, auch ihrerseits einen großen Schlag auszuführen. Sie entschließt sich, dem Gegner die Weichselübergänge bei Iwangorod und nördlich freizugeben, um dann über die gegnerischen Kolonnen während ihres Uferwechsels herzufallen. Ein kühner Plan, der im Frieden bei Kriegsspielen und Manövern in Ausführung und Kritik oftmals eine Rolle spielt, der auch im Kriege vom Feldmarschall Blücher und seinem Gneisenau an der Katzbach glänzend gelöst wurde. Gefährlich bleibt ein solches Unternehmen aber immer, besonders wenn man seiner Truppe nicht völlig sicher ist. Wir raten daher ab. Doch vergeblich! Die russische Überlegenheit kann also bei Iwangorod über die Weichsel rücken; der österreichisch-ungarische Gegenangriff erringt anfangs Erfolge, erlahmt aber bald und verwandelt sich schließlich in einen Rückzug.
Was nützt es uns jetzt noch, wenn die ersten Anstürme der Russen gegen Mackensens neue Front scheitern? Die rechte Flanke unseres beabsichtigten Angriffs ist durch das Zurückweichen unseres Verbündeten entblößt. Wir müssen auf diese Operation verzichten. Es erscheint mir am besten, wir machen uns durch Fortsetzung des Rückzuges die Arme frei, um später anderwärts wieder zuschlagen zu können. Der Entschluß reift in mir in unserem Hauptquartier zu Radom, zunächst nur in Umrissen, aber doch klar genug, um für die weiteren Maßnahmen als Richtlinie zu dienen. Mein Generalstabschef wird diese festhalten, seine titanische Kraft wird für ihre Durchführung alles vorsorgen, des bin ich gewiß.
Freilich verbinden sich mit dem Gedanken auch ernste Bedenken. Was wird die Heimat sagen, wenn sich unser Rückzug ihren Grenzen nähert? Ist es ein Wunder, wenn Schlesien erbebt? Man wird dort an die russischen Verwüstungen in Ostpreußen denken, an Plünderungen, Verschleppung Wehrloser und anderes Elend. Das reiche Schlesien mit seinem mächtig entwickelten Bergbau und seiner großen Industrie, beides für die Kriegführung uns so notwendig wie das tägliche Brot! Man fährt im Kriege nicht einfach mit der Hand über die Karte und sagt: "Ich räume dieses Land!" Man muß nicht nur soldatisch, sondern auch wirtschaftlich denken; auch rein menschliche Gefühle drängen sich heran. Ja gerade diese sind oft am schwersten zu bannen.
Unser Rückzug wird in allgemeiner Richtung Czenstochau am 27. Oktober angetreten. Gründliche Zerstörungen aller Straßen und Eisenbahnen sollen die dichtgedrängten russischen Massen aufhalten, bis wir uns völlig losgelöst haben und bis wir Zeit finden, eine neue Operation einzuleiten. Die Armee rückt hinter die Widawka und Warthe, linker Flügel in Gegend Sieradz; das Hauptquartier geht nach Czenstochau. Der Russe folgt anfangs dicht auf, dann erweitert sich der Abstand. So hat dieser wilde Wechsel spannendster Kriegslagen seine einstweilige Lösung gefunden.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich nicht unerwähnt lassen, daß uns das rechtzeitige Erkennen der uns drohenden Gefahren durch die unbegreifliche Unvorsichtigkeit, ja man könnte sagen, durch die Naivität erleichtert wurde, mit der der Russe von seinen funkentelegraphischen Verbindungen Gebrauch machte. Durch Mitlesen der feindlichen Funksprüche waren wir vielfach instand gesetzt, nicht nur die Aufstellung, sondern sogar die Absichten auf feindlicher Seite zu erfahren. Trotz dieser ungewöhnlichen Gunst der Verhältnisse stellten die eintretenden Lagen besonders wegen der großen zahlenmäßigen Überlegenheit des Gegners jedoch immer noch genügend starke Ansprüche an die Nerven der obersten Führung. Ich wußte aber die untere Führung fest in unserer Hand und hatte das unbedingte Vertrauen, daß von den Truppen das Menschenmögliche geleistet wurde. Solches Zusammenwirken aller hatte uns bisher die Überwindung der gefährlichsten Lagen ermöglicht. Doch schien unser schließliches Verderben dieses Mal nicht bloß aufgeschoben? Die Gegner jubelten wenigstens in diesem Sinne. Sie hielten uns augenscheinlich für völlig geschlagen. Vielleicht war diese ihre Ansicht unser Glück, denn am 1. November verkündet ein russischer Funkspruch: "Nachdem man jetzt 120 Werst verfolgt habe, sei es Zeit, die Verfolgung der Kavallerie zu überlassen. Die Infanterie sei ermüdet, der Nachschub schwierig." Wir können also Atem schöpfen und an neue Pläne herantreten.
An diesem 1. November verfügte Seine Majestät der Kaiser meine Ernennung zum Oberbefehlshaber aller deutschen Streitkräfte im Osten, auch wurde mein Befehlsbereich über die deutschen östlichen Grenzgebiete erweitert. General Ludendorff blieb mein Chef. Die Führung der 9. Armee wurde General von Mackensen übertragen. Wir waren damit von der unmittelbaren Sorge für diese Armee befreit; um so beherrschender wurde unser Einwirken auf das Ganze.
Als unser Hauptquartier wählen wir Posen. Noch bevor wir jedoch dahin übersiedeln, fällt in Czenstochau am 3. November die endgültige Entscheidung über unsere neue Operation, oder ich sage vielleicht besser, erhalten die neuen Absichten ihre endgültige Form.

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